SatzLehrgang – Hans Peter Reutter

Kadenzen aus der Generalbasszeit: Cadenza lunga

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Nehmen wir einmal an, dass die bereits bekannte Amen-Formel in Fauxbourdon-Harmonisierung zusätzlich durch eine tiefer gelegene Bassstimme unterlegt wird. Welche Stimmführung bietet sich an?

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Der erste Klang repräsentiert selbstverständlich die I. Stufe, der zweite allerdings kann nicht mit dem Grundton der ii. Stufe unterlegt werden, das ergäbe Oktavparallelen. Alternativ können wir die Terz im Bass verdoppeln. Klang Nr. 3 ist zwar mit dem ersten identisch, eine Rückkehr zum Grundton der I. Stufe hört sich jedoch nicht besonders spannend und flüssig an. An dieser Stelle schon die V. Stufe im Bass zu spielen, erscheint hingegen vertraut und typisch. Auch der vorletzte Klang passt zur V. Stufe, es ist der D7 der Tonart, dem nur noch der Grundton fehlt (verkürzter Klang – Link). Damit ergibt sich folgende typische Bassbewegung:

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Ich möchte hier auf keinen Fall behaupten, dass diese Kadenzform tatsächlich aus dem Fauxbourdon-Satz entstanden sei. Das ist nur ein methodisches Konzept (…kann man auch Eselsbrücke nennen). Dennoch ist gerade diese Kadenzform die am häufigsten vorkommende der Barockzeit. Noch in der Mozart zugeschriebenen Schrift Fundamente des General-Basses (hrsg. von I. G. Siegmeyer, Berlin 1822, S. 13) wird diese Kadenz als „modern (gallant)“ beschrieben (die erste hingegen als „contrapunctisch“ – kein Wunder, verwendet sie doch die ursprüngliche synkopierte Version der Diskant-Klausel).

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In den italienischen Konservatorien des 17. und 18. Jahrhunderts (und sogar darüber hinaus) gab es eine Tradition des sogenannten Partimento-Spiels. Dabei handelt es sich im Prinzip um eine Satzlehre am Tasteninstrument, die auf Kontrapunkt und Generalbass aufbaut. Mithilfe von standardisierten Modellen wird der Schüler aber sogar dahin gebracht, Bässe aus dem Stegreif auch ohne Bezifferung zu ergänzen und ggf. sogar mit einem kontrapunktischen Satz mit belebten Oberstimmen zu versehen. Der amerikanische Musiktheoretiker Robert O. Gjerdingen ediert derzeit unzählige Quellen des italienischen Barock und stellt die transkribierten Partimenti online zur Verfügung. Da er nach und nach sogar Lösungsvorschläge veröffentlicht, kann man diese barocken Lehrbücher durchaus zum Selbststudium des Generalbasses und der stilgebundenen Improvisation verwenden. Dort finden wir zu unserer Kadenz bei dem Neapolitaner Giovanni Furno den Begriff Cadenza composta („zusammengesetzte Kadenz“ – gemeint ist die Vorhaltsbildung auf der V. Stufe). Anderswo taucht der Begriff Cadenza lunga auf.

Ganz im Sinne des praxis-orientierten Partimento-Spiels schlage ich vor, diese Kadenz in den folgenden Formen in allen Tonarten, verschiedenen Rhythmisierungen, allen möglichen Lagen und Stimmführungen zu üben. Wie oft musste ich schon erleben, dass Musiker die wildesten Sequenzen und Modulationen versucht haben, dann aber daran scheiterten, vernünftig in einer Tonart anzukommen, weil ihnen nur die olle I-IV-V-I – Kadenz einfiel und die womöglich nur in Quintlage…

Damit sich die Kadenz besser eignet, in einen musikalischen Ablauf integriert zu werden, beginnen wir mit der I. Stufe als Sextakkord statt Grundstellung. Das macht den Bass noch fließender. In manchen Schulen wird diese konkrete Erscheinung der Cadenza lunga als Ruggiero-Kadenz bezeichnet (fußend auf einem Bassmodell, das zuerst in Zusammenhang mit der Figur des Ruggiero aus Ariosts Dichtung Orlando furioso bekannt wurde).

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Wenn wir diese Folge funktions-harmonisch analysieren, lernen wir gleich zwei äußerst wichtige Akkordvarianten kennen, die beim Kadenzspiel sehr hilfreich sind und häufig vorkommen: Die spezielle Form der Subdominante mit Sexte statt Quinte S6 und den Vorhalts-Quartsextakkord der Dominante, der in Funktionsharmonik deswegen auch konsequent als D46 und nicht etwa T5 bezeichnet wird!

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Anhand der Bezeichnungen S6 (und nicht Sp3) versus ii6 ahnt man einen Richtungsstreit unter Musiktheoretikern, der bisweilen erbittert geführt wurde und sich teilweise bis heute fortsetzt. Grob gesagt handelt es sich um die entgegengesetzten theoretischen Ansätze fortschreitungsorientierte Harmonielehre nach Jean-Philippe Rameau (heute repräsentiert durch Stufenbezeichnungen) und Tonika-zentrierte dualistische Harmonielehre nach Hugo Riemann (der Begründer der Funktionstheorie). <Link zu Exkurs>

Als Varianten bieten sich nun an, die Subdominante in weiteren Formen zu spielen, sowie verschiedene Vorhalte und Auflösungen der Dominante. Das führt zu unübersichtlich vielen Kombinationen, von denen hier zunächst zwei herausgegriffen werden: Zunächst eine Version mit der gewöhnlichen Subdominante, anschließend die Dominante mit Quartvorhalt und ohne nachschlagende Septe.

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Jetzt eine Version mit sixte-ajoutée – dazu muss in der vierstimmigen Version eine andere Verdopplung des Anfangsakkordes gewählt werden, um Quintparallelen zu vermeiden. Anschließend wird der Dominantquartsextakkord in einen unvollständigen Septakkord aufgelöst. <Link zu Erklärung „unvollständig“>

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Übersicht über die verschiedenen Kombinationsmöglichkeiten in D-Dur/d-Moll

Trainingsprogramm mit Cadenza lunga_0001

Übungen

Verschiedene Kombinationen in mehreren Tonarten spielen/schreiben

z.B. Es-Dur/e-Moll, F-Dur/fis-Moll, G-Dur/g-Moll

 

weiter zu: Cadenza doppia

Letzte Aktualisierung 02.06.12

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