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Bevor ich zu einem anderen musikalischen Aspekt des Wassers komme, erlaube ich mir, eine eigene Komposition einzuflechten, die unsere kleine Flussreise auf einen aktuellen Stand bringt. Ein Abschnitt meines Chamber Concertos No.2 nennt sich, ganz wie dieser Vortrag, „Water Musicke“. Inspiriert wurde ich 2004 allerdings wieder nicht durch Händel, sondern durch zwei höchst disparate Quellen: Die knappe, bilderreiche Lyrik des barocken jesuitischen Dichters Angelus Silesius und den prallen, geradezu knallbunten Roman „Water Music“ von Thomas Coraghessan Boyle. Dieser handelt um 1800 und erzählt in einem der vielen Handlungsstränge die Lebensgeschichte des schottischen Afrikaforschers Mungo Park, dessen Lebenswunsch es war, den wahren Verlauf des Nigers zu entdecken – was ihm nicht ganz gelang. Der Fluss ist Schauplatz wilder, z.T. absurder Abenteuer. Es geht mir keinesfalls  um die musikalische Erzählung solcher Abenteuer, tatsächlich kann ich mich nur an wenige Details aus diesem Roman erinnern, aber die epische Breite und die gelegentliche Surrealität der Handlung haben mich in meinem Vorhaben beeinflusst.

Dazu stehen die Zweizeiler Angelus Silesius‘ in krassem Gegensatz. Das Gedicht, das ein Chor im Anschluss an den Abschnitt „Water Music“ singt, lautet:

Alles ist vollkommen

Mensch nichts ist unvollkommn: Der Kieß gleicht dem Rubin

Der Frosch ist ja so schön als Engel Seraphim.

Meine Wassermusik lässt nun das Wasser und einige seiner Bewohner selber erklingen. Es ertönt ein imitiertes Froschquaken von einem Guero-artigen Reibeinstrument. Außerdem soll der Schlagzeuger Murmeln in eine Wanne werfen und bei der bisher einzigen Teilaufführung haben wir lange mit Materialien herumexperimentiert, bis wir einen schönen Tropfklang erzielt haben. Am Ende stand die Kombination „große Metall-U-Scheiben in Plastikbabywanne“. Aber ich muss gestehen, dass mein handgemachter Ansatz nicht den gewünschten Effekt ergab, er fällt sozusagen „ins Wasser“. Sie werden davon auf der Aufnahme noch weniger hören als das Publikum, was mit der Platzierung der Mikrophone zu tun hat – das Stück erfordert eine weite Verteilung der Musiker im Raum, und der Schlagzeuger war nun einmal besonders weit weg von den Mikros. Das nächste Mal werde ich wohl mit Verstärkung, vielleicht auch Live-Elektronik arbeiten, was leider etwas dem Lo-Tech-Konzept des Stückes widerstrebt.

Aber rein musikalisch werden Sie viele alte Bekannte in neuem Gewand entdecken: den 6/8-Takt, wellenartige und Glissando-Figuren und ein Harmonieschema, das von ferne an den alten Fonte erinnert.

 

Als Mitglied der Internationalen Mikrotonalen Verschwörung habe ich allerdings das gleichschwebend temperierte System aufgegeben oder eher: in Frage gestellt. Die Hälfte der Blasinstrumente ist um einen Sechstelton tiefer gestimmt, das entspricht der Abweichung des 7. Obertons von seiner temperierten Entsprechung. Die Harmonik baut sich auf aus quasi endlosen Terzsäulen, die sich im mikrotonalen Abstand durchdringen, dabei absteigen, so lange, bis wir nach 8 Durchgängen wieder bei der ersten Terzsäule angelangt sind.

Passacaglia

Da sich dieser Vorgang aber sozusagen kreisartig ewig fortsetzt – etwa im Sinne einer Passacaglia – haben wir den Eindruck eines endlosen Herabgleitens. Ein sehr melancholisches Wasser also; wenn wir uns dem noch länger aussetzen würden, könnte das durchaus Depressionen auslösen. Hier aber der glücklicherweise nur drei Minuten währende Abschnitt „Water Musicke“ aus meinem Chamber Concerto No.2.

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