SatzLehrgang – Hans Peter Reutter

Einstimmigkeit: Melodienbau in der Renaissance

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Hörbeispiel: Hymnus „Pange lingua gloriosi“ (Youtube-Link http://youtu.be/U-AsvDn87fo)

Hör- und Lesebeispiel: Kyrie aus der Missa Pange Lingua von Josquin Desprez (Youtube-Link http://youtu.be/3yYBh0luqKo)

Der mittelalterliche Hymnus bildet melodisch und architektonisch die Grundlage der Messvertonung: So beginnt nicht nur jeder Abschnitt mit einem Teil der gregorianischen Melodie, sondern die Klauselbildungen innerhalb der drei Kyrie-Teile entsprechen den Schlusstönen des Hymnus. Kyrie eleison I: c (Mensur 5+9), g (Schluss Mensur 16); Christe eleison: g (Mensur 33), d (Schluss Mensur 50); Kyrie eleison II: g (Mensur 59), e (Schluss Mensur 66).

Sowohl die Originalmelodie sowie Josquins Fassung zeigen in mustergültiger Form verschiedene Merkmale des mittelalterlichen Melodienbaus:

Alle Stufen des Ambitus (+/- eine Oktave) werden berührt

Obwohl einige Stufen häufiger vorkommen, erscheint keine bevorzugt, die Melodie ist immer in Bewegung.

Modus dieser Melodie ist phrygisch, das e bildet jedoch nicht „Grundton“, sondern ist lediglich Finalis.

Der melodische Höhepunkt wird sensibel erreicht.

Konzentrieren wir uns auf die Tenorstimme in den Mensuren 1 – 6.

Josquins Fassung weist einige weitere Merkmale gegenüber der mittelalterlichen auf: Sie ist in einem 3er-Metrum rhythmisiert und erweitert den Ambitus <Link> bis zum hohen e.

Die Melodie folgt einer Wellencharakteristik: insgesamt eine große Welle mit Anlauf, kleinen Kräuselungen und Abflauen am Ende.

Josquin Welle

Mehrstimmige Vokalwerke wurden damals ausschließlich in Stimmen veröffentlicht. Sicher müssen die Komponisten beim Komponieren Partituren erstellt haben, diese sind jedoch nicht überliefert – die Werkstatt des Komponisten sollte ihre Geheimnisse bewahren. In diesen Stimmen wurden keine Taktstriche vermerkt – das unterstreicht optisch den ewig strömenden Charakter dieser Musik. Obwohl wir beim Zuhören das Metrum nur relativ schwach empfinden und es in den Noten lediglich durch die sogenannte Mensurbezeichnung <Link> angedeutet wurde, spielt die metrische Maßeinheit, die Mensur, für die Komposition eine herausragende Rolle. In moderner Notation wird sie meist deshalb in Stimmen durch halben Taktstrich und in Partituren durch Taktstriche zwischen den Systemen angezeigt.

Zusätzlich zu den oben angestellten Beobachtungen können wir an diesem konkreten Beispiel folgende Punkte erkennen:

Der Rhythmus ist anfangs sehr ruhig (an der Metrik orientiert), wird in der Mitte bewegter und zum Ende wieder ruhiger.

Nach Sprüngen verläuft die Melodie schrittweise in Gegenrichtung (Mensur 3), nach Schritten überspringt die Melodie diesen Tonbereich (Mensur 5+6)

Die melodischen Höhepunkte werden rhythmisch besonders behandelt: Der vorläufige Höhepunkt auf c‘ liegt synkopisch auf der 1-und (gezählt wird entsprechend der Mensurbezeichnung in Ganzen!), der absolute Höhepunkt e‘ liegt synkopisch und ist zusätzlich punktiert.

Die Klausel auf dem c‘ in Mensur 4/5 wird überspielt (in Mensur 5 setzt der Diskant mit demselben Soggetto <Link> eine Oktave höher ein), der Anhang (Appendix) schließt diese Melodie.

Man könnte allein an der Betrachtung dieser Melodie einige Zeit verbringen – wie ausgewogen werden die Tonhöhen behandelt, wie organisch verläuft die Rhythmik!

Das Erstaunlichste ist vielleicht, dass dies ja nur ein kleiner Ausschnitt aus einem ca. halbstündigen vierstimmigen Werk ist, in dem quasi jede Stimme zu jeder Zeit dieselbe Qualität aufweist…

Studieren wir die zeittypische Notation und die Aufteilung der Melodien in Mensuren anhand mehrerer Ausschnitte eines anderen großen Komponisten der Epoche der Vokalpolyphonie, Giovanni Pierluigi da Palestrina.

Melodieführung in Palestrina-Magnificats (PDF)

Arbeitsblatt für Melodieentwürfe nach gregorianischen Vorbildern (PDF)

Letzte Aktualisierung 6.11.11

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