SatzLehrgang – Hans Peter Reutter

Satzmodelle: Oktavregel („regola d‘ottava“)

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Eröffnungsmodell: Die Oktavregel („regola d’ottava“)

In den italienischen Konservatorien war die theoretische Ausbildung ganz auf die Praxis des Tastenspiels ausgerichtet. Eine Übung, die in allen Lehrbüchern auftaucht und zentraler Inhalt des Unterrichtes war, ist die Oktavregel. Im Prinzip geht es nur darum zu lernen, welche typischen Akkordverbindungen und Stimmführungen bei stufenweise steigenden oder fallenden Bässen gespielt werden. Diese Übung, Teil des sogenannten Partimento-Spiels, durchzieht Theorien vom 17. Jahrhundert bis ins 19. Jahrhundert (und teilweise darüber hinaus). Selbst Robert Schumann hat nach ihr noch Generalbass geübt und so findet sich die Idee harmonisierter Skalen in zahlreichen Werken verschiedener Epochen.

Die einfachsten Harmonisierungen der auf- und absteigenden Skala wären folgende:

 

Wir sehen: Es überwiegen Sextakkorde, nur auf der 1. und 5. Stufe werden Grundstellungen gespielt. Um das Modell zu gliedern, kann man auf der 5. Stufe eine Zäsur machen und den kadenzierenden Quartsextakkord vor der Grundstellung einfügen. Abwärts kann die Verlängerung der 5. Stufe entfallen, da über der 4. Stufe ohnehin bevorzugt der Sekundakkord gespielt wird, also der Dominantakkord mit Septime im Bass.

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Der fleißige Konservatoriumsschüler hat also schon mit dieser grundlegenden Übung gleich Verschiedenenes gelernt: Auf welchen Stufen kadenzierende Akkorde, auf welchen sequenzierende Akkorde gespielt werden. Damit einhergehend wird gelernt, dass bei Sextakkorden eher parallelgeführt wird, im Zusammenhang mit Grundstellungen jedoch Gegenbewegung stattfindet (ansonsten würden dort meist Oktavparallelen entstehen). Außerdem wird man in der Oktavregel abwärts bereits mit ziemlich „fortgeschrittenen“ Akkorden vertraut gemacht: Über der 6. Stufe wird der Leitton zur 5. gespielt (NB: mit Stufe in arabischen Ziffern ist hier immer der Basston gemeint, nicht die Stufe oder Funktion des gespielten Akkordes), es erklingt also ein doppeldominantischer Akkord; über der 4. Stufe, wie schon oben erwähnt, klingt es am besten, den Akkord der 5. Stufe liegenzulassen. Eine Subdominante an dieser Stelle würde nicht nur stimmführliche Probleme bereiten, sie klingt auch ungünstig. Und das ist auch in den alten Theoriebüchern die gängige „Erklärung“ für Besonderheiten: der „gute Klang“, begründet wird weiters nicht.

Robert O. Gjerdingen erklärt die Oktavregel mit farbigen Symbolen, um die eher stationären und die beweglichen Stufen zu verdeutlichen. Außerdem finden wir auf dieser Seite zahlreiche originale Partimento-Schriften des 17. und 18. Jahrhunderts. Besonders die Übungen von Francesco Durante (1684-1755) lohnen sich für den Anfänger zu spielen.

 

Jetzt ist es möglich, über dem Bass verschiedene Versionen zu spielen – die Akkorde können variiert werden, aber man könnte sogar so weit gehen, in der rechten Hand figurierte Harmonien zu spielen, bis hin zu kontrapunktischen Lösungen. Zunächst soll die Version mit der Mollskala betrachtet werden. Zur Abwechslung finden wir hier über der 4. Stufe keinen Sextakkord (in einer anderen Lage wäre er aber durchaus möglich), sondern die gewöhnliche Moll-Subdominante. Wichtig ist, dass in Moll auch tatsächlich die melodische Skala im Bass gespielt wird. Das erzeugt über der 6. Stufe einen Dursextakkord, also die Dur-Subdominante – die Gesetzmäßigkeiten der Stimmführung ist hier stärker als harmonische Überlegungen.

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Beachte die Gegenbewegung zwischen Sextakkord und Grundstellung zwischen der 3. und 4. sowie der 7. und 8. Stufe: Obwohl keine echten Parallelen entstehen würden (sondern lediglich verdeckte Parallelen [Link]), hat sich die Gegenbewegung als typische Lösung etabliert.

Im Abwärtsbeispiel muss die Tenorstimme ziemlich herumspringen, um Parallelen oder übermäßige Tonschritte zu vermeiden. Der italienische Generalbass würde an solchen Stellen die Tenorstimme einfach weglassen und dreistimmig erklingen, denn die Strengstimmigkeit wurde dort nicht angestrebt. Der norddeutsche Generalbass des 18. Jahrhunderts hingegen wird meist streng vierstimmig ausgeführt.

 

Nun zu typischen akkordischen Erweiterungen des Modells: Vor allem in der Aufwärtsversion können Sextakkorde zu Quintsextakkorden erweitert werden. Wenn dies über der 3. Stufe geschieht, klingt auch hier wieder ein leiterfremder Ton besser – es entsteht, funktional gesprochen, eine Zwischendominante zur Subdominante. So kompliziert haben die Konservatoristen natürlich nicht gedacht, das war einfach „der andere Griff“ mit dem „interessanteren Klang“.

Abwärts können wir die aus der Fauxbourdonkette vertrauten Vorhalte einbauen, über der 2. Stufe kann der Sextakkord zum Terzquartakkord erweitert werden (also zum vollständigen Dominantseptakkord – dasselbe könnte auch schon über der 6. Stufe gemacht werden).

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Moll wird besonders interessant, denn man kann aufwärts nicht nur über der 7. Stufe einen Quintsextakkord spielen, sondern auch über der 6. Funktional wäre das sehr kompliziert zu erklären (da einmal ein unaufgelöster Dominantseptakkord erklingt, müsste man es als sogenannte Ellipse [Link] deuten). Über der 4. Stufe schreibe ich hier mal eine weitere typische Variante der Subdominante, die sixte-ajoutée.

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weiter zu: Oktavregel Literaturbeispiele

Übungen zur Oktavregel (PDF)

Letzte Aktualisierung 10.12.11

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