SatzLehrgang – Hans Peter Reutter
Mehrstimmigkeit: Satztechnik – Satzmodell
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Bewegungsarten
Im mehrstimmigen Satz können wir zwischen verschiedenen Bewegungsarten der Stimmen zueinander unterscheiden:
Das Bewegungsverhältnis zweier Stimmen, das allgemein als
wichtigstes betrachtet wird, ist die Gegenbewegung.
Geschieht dies über längere Zeit in dieselbe Richtung, kann man von einem Fächer sprechen. Hierbei überwiegt – wie übrigens immer in der Melodieführung – die stufenweise Bewegung. Diese kann allerdings von kleineren Sprüngen (Terz bis höchstens Quarte) unterbrochen werden.
Echte Unabhängigkeit von Stimmen entsteht jedoch nicht durch ständige Gegenbewegung: Verhalten sich zwei Stimmen immer in dieser Art zueinander, sind sie genauso abhängig wie durch ständige Bewegung in gleicher Richtung. Angestrebt wird also ein ausgewogenes Verhältnis verschiedener Bewegungsarten.
Steht eine Stimme still, während die andere fortschreitet,
spricht man von Seitenbewegung.
Gehen beide Stimmen in dieselbe Richtung, heißt es allgemein
Parallelbewegung. Man könnte jedoch genauerweise unterscheiden zwischen
eigentlicher paralleler Bewegung in gleichen Intervallen (wobei in dieser
Betrachtung die Unterscheidung zwischen kleinen und großen Terzen oder Sexten
irrelevant ist) und Bewegung in dieselbe Richtung in verschiedenen Intervallen,
der gleichen Bewegung (unteres
Notenbeispiel).
Kadenz - Klauseln
Im zentralen Baustein der tonalen Mehrstimmigkeit – der Kadenz – kann man, je nach Stimmenanzahl, bisweilen alle Bewegungsarten erkennen. Betrachten wir die Kadenz einmal nicht als harmonisches, sondern als stimmführliches Ereignis, dann setzt sie sich zusammen aus melodischen Schlusswendungen, die sich seit Anbeginn der mitteleuropäischen Mehrstimmigkeit herausgebildet haben und zu feststehenden Modellen wurden, den sogenannten Klauseln. Die beiden wichtigsten waren ursprünglich die Tenor- und die Diskantklausel:
Hier sieht man schrittweise Gegenbewegung. Wie zuvor beschrieben, bestand die Diskantklausel in ihrer vollständigen ursprünglichen Fassung aus drei Tönen und erschien stets synkopiert.
Im dreistimmigen Satz kam meist die Bassklausel hinzu. Tenor und Bass gehen in gleicher Bewegung, kehren wir die Bassklausel um in den komplementären Quartanstieg, dann gilt dies für Diskant und Bass.
Trat eine weitere Stimme hinzu, endete diese mit einer Altklausel, die ca. bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts überwiegend so aussah:
So entsteht zu allen anderen Stimmen Seitenbewegung.
(Link zu verschiedenen späteren Formen der Altklausel)
In der Summe erkennen wir das, was später in durmolltonaler
Musik zum Dominant-Tonika-Schritt wurde (die zentrale harmonische Verbindung).
In dieser Fassung fehlt auffälligerweise die Terz,
die aber erst nach und nach als schlussfähige Konsonanz akzeptiert wurde: Die Durterz ca. ab 1600, die Mollterz
blieb bis zur Barockzeit Ausnahme und wurde selbst in Stücken mit Moll als
Grundtonart in Schlussakkorden verdurt – die
sogenannte picardische Terz.
Die zunächst übliche Modifikation zur Hinzunahme
der Terz betraf die Altklausel. In diesem Schlussakkord, der oft in
vierstimmigen Choralsätzen des frühen 17. Jahrhunderts beobachtet werden kann,
erklingt immer noch dreimal der Grundton, einmal die Terz, die Quinte hingegen
fehlt. Diese Verteilung der Dreiklangsbildung nennt
man unvollständig).
Hier ein Beispiel
in dorisch mit picardischer Terz:
Eine andere Modifikation betrifft die Tenorklausel, die jetzt parallel zur Diskantklausel nach oben geführt wird:
Obwohl die Klauseln nach Stimmlagen benannt sind (nämlich nach denen, in welchen sie zunächst ausschließlich bzw. überwiegend vorkamen) (Link zur Rolle des Tenors), waren sie schon sehr bald nicht mehr auf diese Stimmen beschränkt. Insbesondere die Tenorklausel tauchte häufig in der Oberstimme auf. Vor allem seitdem die Komponisten die Hauptstimme aus der Mitte in die Oberstimme rückten (was unseren Hörgewohnheiten ja sehr entgegen kommt), hörten Abschnitte oder Stücke überwiegend mit Tenorklauseln auf.
Aufgabe: Suche aus dem Gedächtnis gängige Melodien (Volkslieder, Choräle, Songs) und bestimme ihre Schlusswendungen!
Etwa seit dem frühen 18. Jahrhundert wurde bei Tenorklausel im Sopran häufig die Diskantklausel in der Mittelstimme modifiziert, um einen vollständigen Schlussakkord zu erhalten.
Beim Singen dieser Wendung, die Altistinnen und Tenören aus Bach-Chorälen wohlvertraut ist, fällt auf, dass sie melodisch ziemlich unbefriedigend klingt – deswegen kommt sie so auch ausschließlich in klanglich untergeordneten Mittelstimmen vor. Der Leitton ist nach über tausendjähriger Geschichte ein Ton, der in unserem Empfinden ein starkes Strebebedürfnis besitzt, das nur ungern ignoriert wird.
Zunächst genug von der Kadenz, sie wird uns noch oft genug
beschäftigen. In der herkömmlichen Betrachtung von Harmonik wird gerne
unterschätzt (oder einfach nur nicht deutlich genug herausgestellt), dass
tonale Musik nicht nur aus Eröffnungen und Schlüssen besteht (also dem
Kadenzieren). In der Mitte, die oft den breitesten Raum einnimmt, gibt es
stimmführlich-harmonische Fortspinnungen oder
Entwicklungen, in denen zwar der Kadenz verwandte Kräfte regieren können, die
aber aufs Ganze gesehen von einer ganz anderen Art von Klangverbindungen
geprägt sind. Der Oberbegriff dazu heißt Sequenz.
Letzte Aktualisierung 6.11.11
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