SatzLehrgang – Hans Peter Reutter

Kadenzen aus der Generalbasszeit: Erweiterungen der Cadenza lunga und doppia (Ruggiero + Trugschluss)

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Anfang des 16. Jahrhunderts verfasste der italienische Dichter Ludovico Ariosto das Versepos Orlando furioso (Der rasende Roland), das vor allem in romanischen Ländern bald weit verbreitet war. In Italien wurden viele Abschnitte dieses Epos nachweislich bald gesungen aufgeführt (und repräsentieren damit eine frühe Entwicklungsstufe der später aufkommenden Oper). Vor allem die Zeile „Ruggier‘, qual sempre fui, talesser voglio“ wurde zu einer Art Hit. Ruggiero ist ein Held dieses Epos (zu deutsch Rüdiger oder Roger). Der 8-taktige Bass dieser Arie wurde als Ostinato <Link> Grundlage für viele weitere Gesangs- und Instrumentalstücke (u.a. bei Diego Ortiz, Sigismondo d‘India und Girolamo Frescobaldi).

Im Detail existiert dieser Bass in voneinander abweichenden Varianten, allen gemeinsam ist, dass sie ziemlich häufig zur I. Stufe kadenzieren (meist zweimal in 8 Takten). Eine frühe Form der Schlusswendung im 7./8. Takt sieht so aus (so gehört z.B. bei Benedetto Ferrari, Youtube-Link http://youtu.be/YPYhlA2hKRw) :

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Überwiegend wird die Bewegung des Basses jedoch flüssiger gestaltet (die Oberstimme kann dabei verschiedene Verläufe annehmen, hier zwei Varianten):

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Hörbeispiel Salomone Rossi: Sonata sopra l‘aria di Ruggiero

 

 

Wir sehen, dass hierbei die Cadenza lunga durch eine vi. Stufe erweitert wird (chronologisch gesehen war dieser Bass natürlich früher da, so dass man eigentlich historisch korrekt sagen müsste, die Cadenza lunga wurde um die vi. Stufe gekürzt…). Vierstimmig ergibt sich hier die Gefahr von Oktav-Parallelen, dies wird auf der Seite Trugschluss <Link> beschrieben (in Kürze: bei Parallelbewegung der Außenstimmen müssen die Mittelstimmen in Gegenbewegung geführt werden). Hier empfiehlt sich bei der Vervollständigung des Basses (sowohl in den vorangegangenen Beispielen als auch auf dem Arbeitsblatt) die Vorgehensweise des frühen italienischen Generalbasses: Die rechte Hand bedient sich einer freistimmigen Ergänzung der Akkorde mit 1 - 4 Stimmen und umgeht damit eventuelle Parallelen.

 

Arbeitsblatt zur Aria di Ruggiero (PDF)

Genau wie wir die Ruggiero-Kadenz als Erweiterung der Cadenza lunga begreifen (und üben!) können, kann auch die Cadenza doppia durch eine verkleinerte Bass-Bewegung variiert und erweitert werden. Ähnlich zum obigen Beispiel des Ruggieros gibt es eine frühe Version mit sprunghaftem Bass – er ergänzt die Grundtöne der modernen Hauptstufenkadenz zu den übernommenen Oberstimmen der Doppia (man beachte allerdings die Deutung in Stufen!):

 

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Eine Verflüssigung des Basses verwendet hier auch wieder die vi. Stufe (zur Abwechslung hier die funktionstheoretische Bezeichnung):

 

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Beide Analyse-Arten sind selbstverständlich anachronistisch: In der Renaissance bzw. im Barock kannte man weder Stufen noch Funktionen, sondern diese Kadenz entstand aus der Stimmführung. Bei der Bedeutungsverschiebung hin zum Bass wurde die Bass-Klausel auf verschiedene Arten verkleinert – das geschah zunächst improvisatorisch und wird Diminutionspraxis genannt (Achtung: das Wort Diminution hat hier eine andere Bedeutung als in der Formenlehre bei der Fuge!). Eine wichtige Quelle zur Diminution der späten Renaissance findet sich bei Diego Ortiz im Trattado de glosas.

 

weiter zu: Satzmodell Oktavregel

 

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Letzte Aktualisierung 22.07.12

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