SatzLehrgang – Hans Peter Reutter
Parallelführungssequenz – Fauxbourdon
Noten-/Klangbeispiel Guillaume Dufay: Hymnus[…]
(Wikipedia-Artikel „Guillaume Dufay“)
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Um 1440 kam für relativ kurze Zeit ein Stimmführungsmodell
in Mode, das damals einen frischen klanglichen Reiz in die offizielle
Musikgeschichtsschreibung brachte: die Parallelführung in Sextakkorden, genannt
Fauxbourdon. (Link zu Worterklärung) In volkstümlicher englischer Musik
existierte schon das Singen in parallelen Terzen, der Gymel (Link), man sprach
von den süßen englischen Terzen (Quelle). Unterlegt man eine Melodie mit einem
liegenden Ton oder gar einem dudelsackartigen Quintklang, spricht man vom Bordun.
Dufay kehrte nun die Quinte in ihr Komplementär Quarte um und ergänzte sie mit
den süßen Terzen. Diese Satztechnik war so populär und einfach, dass sie
improvisiert werden konnte. In den meisten Stücken verzichtet Dufay auf die
Ausnotierung der Mittelstimme, die in parallelen Quarten unter der Oberstimme
verläuft.
Nun gab es aber einige Möglichkeiten, die ständige Parallelführung der drei Stimmen zu durchbrechen, den Satz dadurch also kontrapunktischer zu machen. Das häufigste Mittel ist die Abbildung der synkopierten Diskantklausel auf anderen Stufen. Dadurch entsteht ein 7-6-Vorhalt. (Link Erklärung der Bedeutung von Außenstimmen für Konsonanz-Dissonanz) Dieser kann sich in einer Vorhaltskette bis zum Erreichen der eigentlichen Diskantklausel fortsetzen.
Geht die Melodie aufwärts, bietet sich die quasi gegenteilige Bewegung an: In einer Art Raupengang bleibt die Oberstimme zunächst in der Quinte über der Unterstimme hängen, um dann in die Sexte nachzurücken. Obwohl die 5-6-Kette rein konsonant ist, besitzt sie durch Rhythmik und Bewegung eine Art Vorhaltscharakter.
Nach Dufays Tod wurden Stücke in
reiner Fauxbourdon-Kompositionsweise selten (auch Dufay hat viele Werke
komponiert, in denen diese Technik keine so große Rolle spielt), aber als
Satzart kam der Fauxbourdon in der gesamten tonalen Musik immer wieder vor.
Dabei können wir unterscheiden zwischen dem Fauxbourdon als Satzmodell
und als bloße Satztechnik.
Ein Satzmodell ist charakterisiert durch seine spezifische Stimmführung insbesondere der Außenstimmen (d.h. Oberstimmen gegen Unterstimme), die in verschiedenen kompositorischen Stilistiken bei allen Unterschieden eine merkmalhafte Identität besitzt. Meist bildet es auch eine bestimmte harmonische Fortschreitung aus, die zwar manchmal variant erscheinen kann, jedoch in ihrer Grundform ebenfalls typisch für ein Satzmodell ist. Ein Satzmodell wird in Kompositionen modulhaft eingesetzt und geht oft einher mit bestimmten formalen Situationen (z.B. Eröffnung, Fortspinnung, Schlussbildung etc.).
Satztechnik ist ein allgemeinerer Begriff, teilt sich mit dem Satzmodell bestimmte stimmführliche Merkmale, unterscheidet sich allerdings bisweilen im Verhältnis der Außenstimmen und ist auf keine formale Situation festgelegt. (Link zu detaillierter Erklärung Satzmodell)
Im Falle des Fauxbourdon ist eine Unterscheidung zwischen Satzmodell und Satztechnik besonders einfach und sinnvoll. Während das Modell seine Identität durch die parallele Sextführung der Außenstimmen sowie den Sextakkord bewahrt und fast ausschließlich in Fortspinnungen verwendet wird, die in Kadenzen münden, ist das Verschieben von Dreiklängen eine selbstverständliche Technik, die in dreiklangsbetonter Musik (und nicht nur dort) immer wieder Anwendung findet. Da Quintparallelen bei 100 Peitschenhieben verboten sind, liegt die 1. Umkehrung des Dreiklanges besonders nahe. Dies findet also auch in anderen formalen Zusammenhängen immer wieder statt, häufig auch nur in den Oberstimmen bei anders verlaufendem Bass.
Übungen
<Arbeitsblatt Dufay – Fauxbourdon>
Link zu: Kadenzen, entwickelt
aus dem Fauxbourdon.
Kommentierte
Beispielsammlung
Der Beginn dieser dreistimmigen Motette zeigt noch einmal
mustergültig den spätmittelalterlichen Fauxbourdonsatz, der hier ganz auf
7-6-Vorhalte verzichtet und dafür dreimal 6-5-Vorausnahmen (Link) verwendet. Dufay kontrastiert das
Fauxbourdon-Modell in den abwechselnden Abschnitten durch grundtonbetonte
Satztechnik in isorhythmischer Kompositionsweise
(Link).
Zwei Generationen später stellt Parallelführung eher nur
noch eine Ausnahme im kontrapunktischen Komponieren dar. In diesem Ausschnitt
aus einer sechsstimmigen Motette verwendet Josquin das Fauxbourdon-Modell ein
einziges Mal am Übergang zur Schlusssteigerung des ersten Teiles bei einem
Terzett der drei tiefsten Stimmen. Mensur (Link Erklärung) 86 zeigt die
Möglichkeit, die Mittelstimme eine Oktave nach oben zu transponieren. Das
glückt nur ohne Quintparallelen, wenn wie hier die (ursprüngliche) Oberstimme
synkopiert wird!
Noch seltener ist ein aufwärtsführender Fauxbourdon mit
Raupengang. Hier eines der raren Beispiele Josquins, nur über eine Stufe. In Mensur 9 ist
weiterhin eine Sextparallelführung angedeutet, ist stimmführlich aber anders
ausgeführt (Gegenbewegung der Außenstimmen und Vorhaltsbildung
der Mittelstimme).
In barocken Instrumentalstücken wird die Parallelbewegung
gerne in Figurierung aufgelöst und damit kaschiert.
Henry Purcells „Ground“ (etwa gleichbedeutend mit ostinatem Bass, siehe auch Passacaglia) (Link) zeigt immer dort, wo die Basslinie absteigt, verschiedene Varianten des Fauxbourdon: Am deutlichsten ist das Modell in Takt 2 auf Zählzeit 3+4 zu erkennen, Takt 3 kann gedeutet werden als oktavierte Mittelstimme mit synkopierter Oberstimme, in Takt 31 bleibt nur das Gerüst Oberstimme-Unterstimme mit 7-6-Vorhalt übrig.
In der Klassik wird das Modell gerne im Kadenzvorfeld verwendet.
Takt 43f läuft bereits überwiegend in parallelen Sexten, in Takt 45f benutzt Mozart das Modell zunächst „pur“ mit 7-6-Vorhaltskette, bei der Wiederholung Takt 48f variiert er die Oberstimme mit einer Figurierung.
Eine „Apotheose“ des bei Haydn ohnehin sehr beliebten Fauxbourdons bietet der Eingangssatz der letzten Symphonie des Vaters des klassischen Stils. Das Hauptthema, in dem Parallelführungen zwischen den Außenstimmen vorherrschen, zeigt die beiden Vorhaltsketten in Reinkultur: Takt 21f abwärts als 7-6, Takt 29f aufwärts als Raupengang 6-5-6.
Im Laufe des Satzes nimmt Haydn immer wieder Bezug auf das Satzmodell. Mit typischem Witz führt er es geradezu vor am Ende der Durchführung, die nach dem Fortissimo-Höhepunkt mit parallelen Außenstimmen (aber mit Sekundakkord auf der Dominante) quasi auseinanderbröckelt, bis nur noch hingetupfte Sextakkorde übrig bleiben.
Auch im 19. und 20. Jahrhundert finden sich Beispiele des
Fauxbourdon, oft jedoch nicht als Satzmodell, sondern als Satztechnik der
Oberstimmen. In diesem Beispiel von George Gershwin bilden die Oberstimmen eine
tonale Mixtur.
Im folgenden Ausschnitt werden die Akkorde zu Vierklängen
erweitert und repräsentieren damit eine typische Satztechnik des Jazz. Zwischen
den drei Oberstimmen sind noch Reste einer 7-6-Folge zu erkennen:
Eine einfache Harmonisierung einer Melodie in der Swing-Ära könnte so aussehen: Die Melodie wird in Sexten parallel geführt und in den Mittelstimmen in enger Lage (close[d] harmonies) zu Vierklängen ergänzt, darunter bewegt sich ein Walking Bass.
Letzte
Aktualisierung 6.11.11
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